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Ausgestorbene Phraseologismen

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In einem strikten Sinne als „ausgestorben" könnte'man IcigeiHlich nur solche

Phraseologismen bezeichnen, die in der damaligen Form 'und Bedeutung heute nicht

mehr gebräuchlich sind und deren Komponenten auch keinerlei semantische

Anknüpfung mehr an andere (heule existierende) Pliraseologismen erlauben. Diese

sirenge Bedingung ist nur in wenigen Fällenj ei füllt, und so ist es verschiedentlich

eine Ermessensfrage, ob man einen Ausdruck eher der Gruppe der ausgestorbenen

Phraseologismen oder den unter 6.2 3. und 6.2.5. behandelten Typen zuordnen will.

(a) in den Wurf kommen

Der Ausdruck ist heute nicht mehr bekannt, und man wird seine Bedeutung

auch nicht ohne weiteres aus dem Kontext erschließen können:

Sie vergessen, daß man sie gebeten hat zu schweigen, und so erzählen sie. aus

unverzeihlicher Unvorsichtigkeit, die wichtigsten Geheimnisse ihrer Freunde, an

öffentlichen Wirtslafcln. Oder, indem sie jeden, der ihnen in dem Drange sich zu

einladen in den Wurf komm!, für einen treuen Freund ansehen, vertrauen sie das, was

sie doch nicht als ihr Eigentum betrachten sollten, ebenso leichtsinnigen Leuten an.

als sie selbst sind. (Knigge. 60)

Die zeitgenössischen Wörterbücher geben Erläuterungen, die den Beleg

verständlich machen:

Adelung unter „Wurf:

2. (...) Figürlich ist, einem in den Wurf kommen, ihm von ungefähr begegnen.

Campe unter „Wurf:

2) Die Richtung, nach welcher eine Sache geworfen wird, nach welcher sich

eine geworfene Sache bewegt (...) Einem in den Wurf kommen, ihm von ungefähr

begegnen, gewöhnlich mit dem Nebenbegriffe, daß jener überhaupt in heftiger

Bewegung, z. 13. sehr aufgebracht ist.

(b) in Anschlag kommen

Der Bräutigam hatte schöne Pferde, und sogleich mußte man aufsitzen. Wetter

und Wind. Regen und Sturm kamen nicht in Anschlag: es war als wenn man nur

lebte, um naß zu werden und sich wieder zu trocknen. (Goethe,

Wahlverwandtschaften, 144)

Adelung zu „Anschlag":

2.2) In figürlicher Bedeutung, (a) die Berechnung der Kosten und Einkünfte

einer Sache (...) Etwas in Anschlag bringen, auch in weiterer Bedeutung, Rechnung

darauf machen. Dax kommt nicht mit in Anschlag, darauf wird nicht geachtet.

Wir kennen nur noch ein: in Anschlag bringen 'etw. berücksichtigen,

einkalkulieren' (in Duden II als „Papierdeutsch" markiert). In Duden GW ist in

Anschlag bringen unter „Anschlag" 8. 'Kostenvoranschlag' (als

„Kaufmannssprache" markiert) verzeichnet, auch mit einem Beleg in

übertragener Bedeutung („Bekenntnisse, bei denen immerhin in Anschlag zu

bringen ist, daß ich sie freiwillig ablege", Th. Mann).

Der Phraseologismus war damals als Kollokation mit verschiedenen verbalen

Varianten geläufig, während der heutige Phraseologismus etw. in Anschlag bringen

ein isoliertes Idiom ist. Insofern nützt uns das heutige Sprachwissen wenig für das

Verständnis der Textstelle.

(c) in seinem Fach(c) sein

[Es geht um das Gesellschaftsspiel, Gemälde durch Personen nachzustellen:]

Schnell ward Lucianc gewahr, daß sie hier ganz in ihrem Fach sein würde. Ihr

schöner Wuchs, ihre volle Gestalt (...), alles war schon wie aufs Gemälde berechnet.

(Goethe, Wahlverwandtschaften, 159)

Adelung zu „Fach":

2. Figürlich, die Wissenschaft, die Kunst, worauf man sich vorzüglich gelegt

hat. (...) Ein Mann, der sich in seinem Fache fühlt, (...) der da fühlt, daß er seiner

Sache gewachsen ist.

Heute gibt es die Phraseologismen vom Fach sein, in jinds. Fach schlagen, sein

Fach verstehen (nach Schemann,, wobei die Beispiele dort immer auf Fach im Sinne

von 'erlernter Beruf bezogen sind, nicht aber in einem übertragenen Sinn).

Semantisch liegt heute wohl am nächsten der Ausdruck in seinem Clement sein 'sich

in der einem gemäßen Umgebung wohjfühlen' (in dieser Be-deutungserläuterung bei

Duden II wäre 'Umgebung' nobh durch 'Tätigkeit' zu ergänzen, wie auch das dort

gegebene Beispiel zeigt: „Wenn er die Berliner Philharmoniker dirigierte, war er

ganz in seinem Element."). Von der heutigen Sprache her wird man den

Phraseologismus im Text wohl relativ konkret auf Fach im Sinne von 'Fachgebiet'

beziehen, nicht aber auf die abstraktere Bedeutung 'einer Sache gewachsen sein.

(d) im Fall sein, ein: zu tun

Je mehr die schöne Braut solche Gesinnungen bei sich ganz heimlich nährte, je

weniger nur irgendjemand dasjenige auszusprechen im Fall war. was zugunsten des

Bräutigams gellen konnte (...). desto mehr begünstigte das1 schöne Her/ seine

Einseitigkeit (...) (Goethe, Wahlverwandtschaften. 206)

Das DW gibt unter im fall sein bzw. sich in dem fall finden die französischen

Paraphrasen 'etre datis le cas' bzw. 'so trouver dans lejcas'1s und zahlreiche Belege

von Wicland. Goethe, Schiller und anderen zeitgenössischen Autoren. Adelung

verzeichnet unter Fall in der Bedeutung von lat. casus, ohne nähere Erläuterung, nur

den Beispielsatz Ich befand mich in dein Falle derjenigen, die sich auf etwas

besinnen wollen, ähnlich Campe: sich in'eincm gewissen Falle befinden.

(e) etw. ins Feine bringen

Überhaupt muß man so wenig als möglich die Leute in Verlegenheit setzen,

vielmehr sich bcmülin, wenn auch jemand im Begriff ist, eine Unvorsichtigkeit zu

be-gehn (...) oder sonst beschämt zu werden, ihm diese Verlegenheit zu ersparen oder

die Sache auf irgendeine Weise wieder ins Feine zu hringeii. (Knigge. 57)

Adelung zu „fein":

2) Figürlich (a) (...) Eine Sache wieder in das Feine bringen, figürlich sie

wieder in Ordnung bringen, wofür man auch sagt, sie in das Reine bringen. |Man

beachte, daß Adelung den Ausdruck, im Gegcnsatzi zu Knigge. ohne Verschmelzung

von Präposition und Artikel formuliert. Das Nebeneinander der Varianten in das

Feine und ins Feine deutet auf einen noch relativ schwachen Grad der

Phraseologisieiung hin.]

Heute gibt es keinen entsprechenden Phraseologismus mh fein, wohl aber den

fast gleichklingenden und wohl weitgehend synonymen Ausdruck etw. ins Reine

bringen 'etw. klären, in Ordnung bringen', sowie weitere semantisch ähnliche

Ausdrücke mit dem Verb bringen, wie in Ordnung bringen usw., so daß man die

Bedeutung im Kontext wohl erraten wird.

(f) im Zuge sein

Nun laßt mich denn, weil ihr doch einmal im Zuge seid, ein paar solche Fälle

wissen. (Goethe, Wahlverwandtschaften, 36)

Bei Adelung findet sich kein einschlägiger Eintrag. Campe hat unter „Zug" den

Eintrag:

(2) Von ziehen als Thatwörte, die Handlung da man ziehet; ohne Mehrzahl.

(...) Im Zuge sein, eigentlich im Zuge, im Ziehen begriffen sein, und uneigentlich mit

etwas bei gutem Fortgange beschäftigt sein. (Markiert nach Campes sehr

differenzierter pragmatisch-stilistischer Klassifikation: „Niedrige,Aber deswegen

noch nicht verwerfliche Wörter, weil sie in der geringern (...) Schreibart, und in der

Umgangssprache brauchbar".)

Heute kennen wir den präpositionalen Phraseologismus im Zuge 'im Verlauf,

ferner am Zug sein, das aber nicht bedeutet 'mit etwas beschäftigt sein', sondern das

konkret bedeutet "beim Spiel an der Reihe sein' und metaphorisch auch auf andere

Handlungszusammenhänge angewendet werden kann.

Das heutige Sprachwissen führt bei der Lektüre der Stelle also möglicherweise

in die Irre, so daß wir hier den Fall der „falschen Freunde" vor uns haben

(Ausdrücke, die formal ähnlich sind, aber unterschiedliche Bedeutung haben).

(g) jmdm. etw. unter die Augen sagen

Glaubst du denn aber, daß es rätlich sei, den Hauptmann mit Ottilien als

Hausgenossen zu sehen, einen Mann ungefähr in deinen Jahren - daß ich dir dieses

Schmeichelhafte nur gerade unter die Augen sage - wo der Mann erst liebefähig und

erst der Liebe wert wird, und ein Mädchen von Ottiliens Vorzügen? (Goethe,

Wahlverwandtschaften, 14)

Die formal nächstliegenden heutigen Phraseologismen sind jmdm. unter die

Augen kommen / treten 'sich bei jmdm. sehen lassen' und unter jmds. Augen 'in

Anwesenheit von jmdm., unter jmds. Aufsicht'. Synonym mit dem älteren Ausdruck

wäre der heutige Phraseologismus jmdm. etw. ins Gesicht sagen 'jmdm. etwas ohne

Scheu, ohne Schonung sagen'. Die Kenntnis all dieser Ausdrücke kann zu einem

adäquaten Verständnis der Textstelle führen.

(h) einen Stoß erleiden

Es war sehr schwül, und die Frauenzimmer äußerten ihre Besorgnis wegen

eines Gewitters, das sich in weißgrauen dumpfichten Wölkchen rings am Horizonte

zusammenzuziehen schien. Ich täuschte ihre Furcht mit amfiaßlicher Wetterkunde,

obmir gleich selbst zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Stoß erleiden.

(Goethe, Werther, 22)

Adelung führt unter Stoß als „figürliche" Verwendung auf:

Das wird seiner Gesundheit, seiner Ehre, seinem guten Namen, seinem

Wohlstande einen Stoß geben, 'einen merklichen Nachtheil bringen'.

Das DW verzeichnet die Ausdrücke einen stosz leiden bzw. erleiden, mit

Belegen bereits bei Luther, besonders dicht aber für das 18. Jahrhundert.


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