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Bedeutung

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Selten kann man den genauen geschichtlichen Moment bezeichnen, in dem ein

semantischer Wandel initiiert wird. Einen solchen Fall finden wir in den

„Wahlverwandtschaften" mit dem Ausdruck der rote Faden (der heute die Bedeutung

'der leitende Gedanke, die Grundlinie, das Grundmotiv' hat):

Goethe kommentiert seine Verwendung von roter Faden als „Gleichnis" und

weist selbst auf die geschichtlichen Hintergründe hin:

Wir nehmen daher Gelegenheit von demjenigen, was Ollilic sich daraus in

ihren Heften angemerkt, einiges mitzuteilen, wozu wir keinen schicklichem

Übergang finden als durch ein Gleichnis, das sich uns beim Betrachten ihrer

liebenswürdigen Blätter aufdringt. Wir hören von einer besonderen Einrichtung bei

der englischen Marine. Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis

zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, daß cm roter Faden durch das Ganze

durchgeht, den man nicht herauswinden kann ohne alles aufzulösen, und woran auch

die kleinsten Stucke kenntlich sind, daß sie der Krone gehören. Eben so zieht sich

durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und Anhänglichkeit, der alles

verbindet und das Ganze bezeichnet. (Goethe, Wahlverwandtschaften. 134)

Wenn in dieser Textstelle der rote Faden zunächst nur in wörtlicher Bedeutung

erscheint und in übertragener Bedeutung nur von der Faden der Neigung die Rede ist,

so wird an späterer Stelle der rote Faden explizit in bezug auf das Tagebuch

verwendet:

Manches eigene von innigerem Bezug wird an dem roten Faden wohl zu

erkennen sein. (Goethe, Wahlverwandtschaften, 150)

Es ist natürlich nicht auszuschließen, daß auch andere Sprecher und Schreiber

vor Goethe oder gleichzeitig mit ihm den roten Faden im übertragenen Sinn

verwendet haben mögen, doch ist zweifellos der Text von Goethe der Grund dafür,

daß der Ausdruck gebräuchlich und damit zum l'hniscologismus wurde. (Sowohl in

Röhrich als in Duden 11 wird Goethe als Urheljei des Phraseologis-mus bezeichnet.)

Man könnte den Ausdruck in bezug auf das „YVerk Goethes somit als

,.Autorphraseologismus"(vgl. 2.4.6.) bezeichnen) der in der Folge allgemeine

Verbreitung fand.

Epoche machen heißt heute 'durch eine besondere Leistung für einen [neuen|

Zeitabschnitt bestimmend, in Aufsehen erregender Weise wichtig sein'. In den

Wahlverwandtschaften bezieht sich der Phraseologismus - was heute kaum mehr

möglich wäre - auf eine Phase in der Biographie eines Menschen:

(...) Eduarden entschlüpfte die Bemerkung, daß ein solcher Fall in dem Leben

seines Freundes auf die seltsamste Weise Epoche gemacht. (Goethe,

Wahlverwandtschaften. 30)

Doch indem sie sich zu ihm hiiiuntcrneigtc und eine Hand au seine Schultern

legte, rief sie aus: Daß dieser Augenblick in unserm Leben Epoche mache, können

wir nicht verhindern (...) (Goethe. Wahlverwandtschaften. 90)

Der heutige Ausdruck von Kopf bis Fuß hat zwei Bedeutungen: 1. 'von oben

bis unten', 2. 'völlig, durch und durch'. In den älteren Texten heißt der Phraseologismus

von Kopf zu Fuß und wird nur in der konki'eten Bedeutung gebraucht:

Der Prinz, nach einem flüchtigen Blick, womit er ihn von Kopf zu Fuß

überschaute, durchlief die in der Brieftasche befindlichen Papiere. (Kleist.! 57)

Die Frau, indem sie uns flüchtig von Kopf zu Fuß maß, sagte; (...) (Kleist, 100)

Der Ausdruck ist auch noch nicht im gleichen*-.Maße lexikalisch fixiert wie

heute, wie die folgende Formulierung zeigt:

Sie begriff wohl die Absicht, sie mehr als einmal vom Kopjbh auf den Fuß zu

kleiden. (Goethe. Wahlverwandtschaften. 105)

Vom Kopf bis auf den Fuß ist liier offensichtlich stärker wörtlich gemeint als

die Wendung von Kopf bis Fuß.

Ein: ins Leben rufen ist heute nur noch phraseologisch zu verstehen ('etw.

gründen, neu schaffen'), während früher die Komponente Lehkn wörtlich verstanden

wurde (so daß die ganze YVendung die Bedeutung hatte 'jmdn., der halb tot ist,

wieder lebendig machen'):

Nichts ward versäumt, den schönen, halbstarrcn, nackten Körper wieder ins

Leben zu rufen. (Goethe, Wahlverwandtschaften. 209)

Auch jmdm. keine Ruhe lassen ist heute nur noch in phniseologisch-überlragener

Bedeutung üblich ("jindn. beunruhigen'). Die folgende Stelle in den

„Wahlverwandtschaften" würde man aber mißverstehen, wenn man sie im heutigen

Sinne verstünde:

Dem Gast ward auf dem rechten Flügel tlcs Schlosses ein freundliches

geräumiges Quartier angewiesen, wo er sehr bald Bücher, Papiere und Instrumente

aufgestellt hatte, um in seiner gewohnten Tätigkeit fortzufahren. Aber Eduard ließ

ihm in den ersten Tagen keine Ruhe; er führte ihn überall herum, bald zu Pferde, bald

zu Fuße, und machte ihn mit der Gegend, mit dem Gute bekannt. (Goethe.

Wahlverwandtschaften, 22)

Daß Eduard ihm keine Ruhe ließ, ist nicht negativ gemeint, und schon gar

nicht im Sinne von 'beunruhigen', sondern durchaus wörtlich (der Gast hatte also

'keine Ruhe', um seinen gewohnten Tätigkeiten nachgehen zu können). Auch der

heutige Ausdruck jmdn. in Ruhe lassen fjindn. nicht stören, unbehelligt lassen') hätte

in negierter Verwendung (er ließ ihn nicht in Ruhe) eine negative Konnotation.

Guter Hoffnung sein 'schwanger sein' wirkt heule eher altmodisch (Duden 11

markiert den Ausdruck als,.gehoben"), der Ausdruck ist phraseologisiert, wie an der

heute nicht mehr lebendigen Genitivkonstruktion erkennbar ist. Wenn nun in einem

heutigen Text der Genitiv als Nominativ anaphorisch wieder aufgenommen und

damit der Teil gute Hoffnung remotiviert und der ganze Phraseologismus modifiziert

würde, müßte das befremdlich wirken. In den „Wahlverwandtschaften" aber findet

sich eine solche Formulierung an einer sehr dramatischen Stelle der Geschichte, was

darauf hindeutet, daß Hoffnung noch stärker in seiner freien Bedeutung verstanden

wurde:

(Charlotte:) Ich muß glauben, ich muß hoffen, daß sich alles wieder geben, daß

Eduard sich wieder nahem werde. Wie kann es auch wohl anders sein, da Sie mich

guter Hoffnung finden. Versteh ich Sie recht? fiel Minier ein. - Vollkommen,

versetzte Charlotte-Tausendmal gesegnet sei mir diese Nachricht! rief er (...) Mehr

als tausend Worte wirkt eine solche gute Hoffnung, die fürwahr die beste Hoffnung

ist, die wir haben können. (Goethe, Wahlverwandtschaften, 123)

Wir verstehen die Stelle mühelos, aber die Verwendung des Ausdrucks würde

auf uns als Modifikation wirken, was sie im Goethcschen Kontext wohl nicht (oder

nur in schwacher Form) war.

Schon kleine semantische Verschiebungen können die Rezeption eines älteren

Textes beeinträchtigen:

Wir kennen verschiedene Phraseologismen mit der Komponente trocken,

darunter auf dem trockenen sitzen (1. 'seine Reserven aufgebraucht haben, nicht mehr

weiter wissen'; 2. 'nichts mehr zu trinken haben") und sein Schäfchen ins trockene

bringen/ im trockenen haben ('sich [auf Kosten anderer] großen Gewinn, große

Vorteile verschaffen/ verschafft haben').

Daneben gibt es die Ausdrücke mit konkreter Bedeutung auf dein Trock(e)nen/

im Trock(c)nen, die auch phraseologisch, wenn auch nur schwach idiomatisch sind

(die ßedeutungserläuterungen in Duden GW 'auf trockenem, festem Boden, an Land'

bzw. 'an einem trockenen, vor dem Regen geschützten Ort' weisen auf die leichte

kliomatisierung hin).

In der folgenden Stelle aus den „Wahlverwandtschaften" findet sich eine

Formulierung, die uns leicht humoristisch anmutet (die aper sicher nicht so gemeint

ist):

(Der Mann rettet eine Frau, die ins Wasser gesprungen iit, aber nicht

schwimmen kann:) Dort brachte er seine schöne Beute aufs Trockne [d. h. an Land]:

aber kein Lebenshauch war in ihr zu spüren. (Goethe, Wahlverwandtschaften. 208)

Adelung unter „trocken":

Trocken sitzen, im Trockenen sitzen, vor der Nässe bedeckt sitzen

Das für uns Auffällige an der Formulierung ist die Tatsache, daß eine

Kombination von aufs Trockne und bringen konkret gemeint ist, nährend sie heute

kaum anders als übertragen aufzufassen wäre. Zusätzlich werden wir noch

fehlgeleitet durch das Objekt Beute, das uns den Phraseologismus sein Schafchen ins

trockene bringen assoziieren läßt.

Das folgende Beispiel zeigt einen Wandel, der in der Gegenwart noch nicht

abgeschlossen ist:

Er ließ einen Knecht bei ihnen zurück, versah ihn mit Gel I, ermahnte ihn. die

Pferde, bis zu seiner Zuriickkunfl. wohl in acht zu nehmen (...') (Kleist, 7)

Schon damals warder Ausdruck stark phraseologisiert, Worauf auch die

(originale) Kleinschreibung hindeutet, aber er hatte noch eilten größeren

semantischen Spielraum als heute. An Objektstelle konnten z. B. Pferde auftreten.

Das wäre in unserem Sprachgebrauch nicht mehr möglich.

Adelung unter „Acht":

Die Acht, ein Substantiv, welches nur im Singular, und zwar größten Tlicils

ohne Artikel, auch nur mit den Vcrbis haben, nehmen, geben, laksen und fallen

üblich ist. Es bedeutet, 1. Wahrnehmung und Bewußtsein. (...) Ehvusiw einem in

Acht nehmen. gewahr werden. (...) Diese Bedeutung fängt an. selten zu werden, und

wird wohl nur noch zuweilen im gesellschaftlichen Umgänge gehöret. 2

Aufmersamkeit, sornlal-tige Beobachtung. (...) 1. Sorgfalt (...)

Die Auskunft der heutigen Wörterbücher ist allerdings nicht so eindeutig: Das

Wort Acht ist im heutigen Deutsch nicht mehr frei verwendbar. Duden GW setzt

zwar ein Lemma Acht 'Aufmerksamkeit', bemerja aber einschränkend: „nur in

bestimmten Wendungen, daher als Substantiv vtrblaßt und meist klein geschrieben".

Unter den in Duden GW aufgerührten Phraseologismen finden sich etw. in acht

nehmen 'vorsichtig, sorgsam behandeln' und sich in acht nehmen 'vorsichtig sein,

aufpassen". Für etw. in acht nehmen werden keine Beispiele gegeben, so daß man

annehmen müßte, i'ür die Objektstelle gäbe es keine semantische Beschränkung, also

seien auch Pferde dort einselzbar. Duden 11 führt ebenfalls die beiden Ausdrücke als

separate Eintrüge auf und gibt zu etw. in acht nehmen die Beispiele: „Wenn Sie mit

ihm tanzen, nehmen Sie Ihre Füße in acht! Ich schließe die Tür, nehmt eure Finger in

acht!" Schemann (1993) markiert den Ausdruck als „veraltend selten" und gibt (ohne

Quellenangabe) das Beispiel: „So einen hochsensiblen Apparat muß man natürlich in

acht nehmen. Wenn man damit nicht schonend umgeht, ist er im Nu kaputt."

Aus dem älteren Beleg, den Einträgen in den heutigen Wörterbüchern und

meiner eigenen Sprachkompetenz möchte ich folgenden Schluß ziehen: Der Phraseologismus

hieß ursprünglich etw./jmdn. in acht nehmen. Er spaltete sich in zwei

(allerdings semantisch nahe beieinander liegende) Ausdrücke: Der eine -mit Objekt

<Mensch> - wurde eingeschränkt auf die Besetzung mit dem Reflexivpronomen sich

und blieb in dieser Form bis heute lebendig, der andere - mit Objekt <Tiere, Sachen>

- veraltete und ist heute kaum mehr gebräuchlich.

Eine unscheinbare, aber doch deutliche Bedeutungsveränderung liegt im

folgenden Beleg vor:

Sie lag noch an seinem Halse; er schloß sie aufs neue in seine Arme und

drückte einen lebhaften Kuß auf ihre Lippen; aber auch im Augenblick lag er zu ihren

Füßen, drückte seinen Mund auf ihre Hand und rief: Charlotte, werden Sie mir

vergeben? (Goethe, Wahlverwandtschaften, 90)

Im Augenblick heißt in unserer heutigen Sprache 'jetzt, momentan', in Goethes

Text aber ist das gemeint, was wir heute mit im gleichen Augenblick ausdrücken

würden.

Einen interessanten Beleg für eine Verschiebung im konnotativen Bereich

stellt der Ausdruck eine milde Gabe im folgenden Text dar:

Willst Du einen solchen [Kaufmann] zu einer milden Gabe oder sonst zu einer

großmütigen Handlung bewegen, so mußt Du entweder seine Eitelkeit mit in das

Spiel bringen, daß es bekannt werde, wieviel dies große Haus an Arme gibt, oder der

Mann muß glauben, daß der Himmel ihm die Gabe hundertfältig vergelten werde;

dann wird es andächtiger Wucher. (Knigge, 368)

Für einen Deutschsprechenden der älteren Generation ist der Phraseologismus

milde Gabe 'Almosen' vielleicht unauffällig, Jüngere hingegen brauchen ihn selber

wohl nur als kommentierend-abschätzige Formel, wenn man ein Angebot als

unzureichend oder minderwertig qualifizieren will. In Knigges Text ist er natürlich

ganz ernst gemeint.

An einem Beispiel, das in unserem Textkorpus bezeugt ist, wollen wir die

ganze Bedeutungsgeschichte eines Ausdrucks verfolgen:

Der Ausdruck vom Leder ziehen (heute 'heftig schimpfen' nach Duden 11)

scheint im 17. Jahrhundert bereits verfestigt zu sein, zunächst aber nur in konkreter,

auf den Kampf bezogener Bedeutung, so z. B. bei Christian Reuter (1696):

O Sapperm., wie zog ich meinen Rückenstreicher auch von Leder und legte

mich in Positur! (Ch. Reuter, Schelmuflsky, 39)

Ey Sappcrm., wie zog der Kerl mit seinen Capers von Leder! Ich war nun mit

meinen vortrefflichen Hau-Degen, welches ein Rückstreicher war, auch nicht

langsam heraus und über die Capers mit her. (Ch. Reuter, Schelmuflsky, 114)

Auch im 18. Jh. scheint es sich noch so zu verhalten, wie der Eintrag bei

Adelung (unter Leder) zeigt:

In der R.A. von Leder ziehen, d. i. den Degen ziehen, scheint es die lederne

Scheide oder auch das lederne Degengehenk zu bezeichnen.

Im „Kohlhaas" finden wir genau diese Verwendung:

(...) so folgte ihm der Kämmerer von hinten, riß ihm den Hut ab (...), zog,

nachdem er den Hut mit Füßen getreten, vom Leder, und jagte den Knecht mit

wütenden Hieben der Klinge augenblicklich vom Platz weg und aus seinen Diensten.

(Kleist. 67)

Seit wann aber ist der Ausdruck übertragen verwendet worden?

DW (1885) bringt keine expliziten Belege für übertragene Verwendung und

auch keinen entsprechenden Bedeutungspunkt, wohl aber einen Beleg von Jean Paul,

der auf den möglichen Beginn der metaphorische! Verwendung hindeutet. Zugleich

belegt er die morphologische Veränderung von artikelloser (von leder) zu

artikelhaltiger Form (vom leder), wie sie heute noch üblich ist:

wir (Deutsche) ziehen in büchern keck vom leder und zeigen, wo uns das herz

sitzt (J. Paul)

Diesen Beleg zitiert auch Röhrich. Ob der Jean Paul-Bel;g aber das erste

greifbare Zeugnis für die neue Verwendung ist und ob er auf den prototypischen

Kontext hinweist, innerhalb dessen die Übertragung stattgefunden haben könnte, läßt

sich ohne weitere Quellenstudien nicht ausmachen.


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